Die Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido

Die ursprüngliche Diskussion der Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido fand im Zoom Online Training am 12. Juni 2022 statt. Darauf folgend hatten wir im September und Anfang Oktober die Diskussionen zu den einzelnen Prinzipien, für welche die Mitschriften hier verlinkt sind:
4. Sep.: Ki dehnt sich aus
11. Sep.: Erkenne den Geist deines Partners
18. Sep.: Respektiere das Ki deines Partners
24. Sep.: Versetze dich in die Lage deines Partners
9. Okt.: Führe und bewege.

Die Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido (12. Juni 2022)

Hallo, alle zusammen. Onegaishimasu.

Heute geht es um die Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido”: 

1) Ki dehnt sich aus.
2) Erkenne den Geist deines Partners.
3) Respektiere das Ki deines Partners.
4) Versetze dich in die Lage deines Partners.
5) Führe und bewege.

Viele Menschen denken, dass diese fünf Prinzipien uns nur lehren, wie man Techniken ausführt. Es ist zwar richtig, dass diese Prinzipien, wie alles im Aikido, als Leitfaden für die Ausführung von Techniken dienen, aber sie sind auch wichtige Metaphern für unser Handeln im täglichen Leben. Wenn wir unsere körperliche Praxis nicht als metaphorisch verstehen, ist das in Ordnung. Damit will ich nicht sagen, dass dies eine falsche Anwendung der Prinzipien ist. Ich behaupte nur, dass wir, wenn wir diese Prinzipien und Praktiken nur als Beschreibung einer Reihe von körperlichen Übungen und Ausdrücken sehen, nicht den vollen Nutzen erhalten, den wir sonst hätten. 

Um diesen Punkt zu veranschaulichen, werde ich eine kurze Geschichte erzählen: Im Jahr 1996 verbrachte mein Sohn Joshua sein erstes Studienjahr in Tokyo an der Waseda-Universität. Als ich in jenem Jahr Japan besuchte, bat er mich, eine seiner Professorinnen zu treffen, die ebenfalls Aikido trainierte. Joshua und ich kamen wie vereinbart in ihr Büro und besuchten sie kurz.  Ich fragte sie, wo sie Aikido trainiert hatte. Sie sagte, sie trainiere derzeit im Aikikai Hombu Dojo (Hauptquartier) in Tokyo, aber ihr ursprünglicher Lehrer in New England in den USA sei Mitsunari Kanai Sensei gewesen, ein bekannter und einflussreicher Aikikai Aikido Lehrer.  Ich bat sie, ein wenig über ihr Training zu erzählen.  Sie erzählte mir enthusiastisch, wie sehr sie es liebte, auf der Matte “etwas aufzumischen” (engl.: mixing it up). Sie sagte, dass sie Anfang 50 sei und leider anfange, körperlich zu leiden, wenn sie Uke sei und betonte, wie entmutigend das für sie sei.  Ich fragte sie, was sie tun würde, wenn es für sie zu schwierig würde, für ihre Partner zu fallen. Sie sagte, dass sie an diesem Punkt wahrscheinlich mit dem Training aufhören würde.  Ich fragte sie, ob es keinen anderen Grund gäbe, mit dem Training fortzufahren, und sie sagte sehr bestimmt, dass Aikido nicht wirklich mehr als das biete.

Es mag überraschen, dies zu hören, aber in einigen Aikido-Schulen gibt es viele aufrichtige Schüler, die sich dem Training mit Begeisterung hingeben, denen aber von ihren Lehrern nichts anderes geboten wird als ein körperliches Training mit einer kleinen Menge Philosophie über das Ki. Oder es gibt diejenigen, die aufgrund ihrer eigenen Anpassung an dieses Leben und die Praxis nur die körperlichen Vorteile als Möglichkeit wahrnehmen wollen.

“Ki dehnt sich aus.” Dies ist auch das vierte der “Vier Grundprinzipien” von Tohei Sensei. 

In diesen “Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido” steht es jedoch an erster Stelle. “Ki dehnt sich aus” wird immer als der Zustand bezeichnet, in dem wir uns befinden müssen, bevor wir etwas auf oder außerhalb der Matte tun.  Bevor wir sprechen oder handeln, oder auch nur daran denken zu sprechen oder zu handeln, müssen wir “Ki ausdehnen”. Mit anderen Worten, unser Bewusstsein muss alle Möglichkeiten einschließen, die uns in diesem Moment von Personen oder der Umgebung präsentiert werden.  Um immer bereit und effektiv zu sein, ist es immer am besten, sich auf das Zuhören und Beobachten zu konzentrieren, anstatt sich blind auf das Tun zu konzentrieren. Mit anderen Worten: Der Schlüssel zur Ausdehnung des Ki ist das Gewahrsein.

“Erkenne den Geist deines Partners”. Indem wir die Techniken im Dojo üben, lernen wir, unsere Aufmerksamkeit auf die Absicht unseres Partners zu richten. Wir wissen, dass der Geisteszustand unseres Partners sehr wichtig ist, weil wir dieses Verständnis nutzen müssen, um uns mit dem Momentum unseres Partners zu verbinden und letztendlich eine Lösung zu finden. Die Aikido-Techniken zeigen uns nicht, wie wir über unseren Partner gewinnen können. Die Absicht des Partners ist wichtig für uns, weil wir sie respektieren und annehmen müssen, wenn wir uns mit ihm verbinden und letztendlich eins werden wollen.

Ich habe einen Freund, der Geschäftsmann ist, und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erzählt er mir Geschichten über seine wunderbaren Erfolge im Geschäft, wie viel Geld er verdient, wie er seine Gegner bei diesem oder jenem Geschäft verwirrt. Und er sagt zu mir: “Was ich mache, ist Aikido, richtig? Ich mache dieses Aikido, das du machst, und ich bin immer der Gewinner. Ich bin dir so dankbar. Ich gewinne immer.” Natürlich ist das kein Aikido, und er missversteht die Lehre. Ich sage ihm nicht, dass er damit aufhören soll und versuche auch nicht, ihn zu korrigieren. Er ist nicht mein Schüler. Er ist ein Bekannter von mir, ein Geschäftsmann. Und er stellt diese Behauptungen nur auf, weil er damit zeigen will, dass er sich gut mit mir versteht. Er möchte einfach nur mein Freund sein, ist aber etwas verwirrt, wie er das anstellen soll.

Dies ist ein sehr häufiges Missverständnis, sogar in der Aikido-Welt. Der häufigste Kommentar, den wir, die Schüler von Koichi Tohei Sensei, ihn zu uns sagen hörten, war: “Es sieht so aus, als ob du diese Person werfen willst.” Er ging durch das Dojo und sah uns bei unseren Techniken zu und sagte immer wieder: “Ich glaube, ihr wollt sie werfen”, was bedeutet: “Das ist euer Fehler. Ihr denkt, dass es beim Aikido darum geht, zu lernen zu gewinnen.” Das ist wie bei diesem Geschäftsmann, der sich vorstellte, das Leben sei ein Wettbewerb, ein Überlebenstest. Das ist so, als ob wir denken, wenn wir einen Freund treffen, ist es das Wichtigste zu wissen, wie wir ihn erobern können. Das ist ein großer Irrtum.

Diese Grundsätze zeigen uns, wie wir Widrigkeiten zwischen zwei oder mehreren Menschen auflösen können, so dass am Ende alle wirklich gewinnen, weil sie miteinander verbunden und zusammen sind. Das ist der wahre Erfolg. Alle Seiten gewinnen, indem sie zu ihrer Verbindung mit dem anderen erwachen.

“Respektiere das Ki deines Partners.” Wir könnten auch einfach sagen: “Respektiere deinen Partner.” Das bedeutet natürlich, dass wir ihn wirklich respektieren und nicht, dass wir ihm Respekt zeigen, damit er denkt, dass wir das eine tun, während wir aber das andere tun. Eine Aikido-Technik ist niemals ein Trick. Wir respektieren sie wahrhaftig, und zwar von ganzem Herzen. 

“Versetze dich in die Lage deines Partners.” Wir haben das schon so oft und auf so viele andere Arten gehört. “Lauf eine Meile in den Schuhen des anderen.” Wir versetzen uns in seine Lage, damit wir wissen, was er fühlt, was sein Standpunkt ist. Natürlich können wir jemandem nicht einfach unsere Sichtweise aufzwingen. Zuerst müssen wir seine Sichtweise erkennen. Wir laden ihn ein, ihn uns mitzuteilen und Wege zu finden, wie wir mit dieser Sichtweise harmonieren können. Ja? Es geht hier um Einigung, um Zusammenkommen. Es geht nie darum, einen Streit zu gewinnen. Wir versuchen nicht, jemand anderen zu besiegen. Es geht nicht darum, sie zu werfen, sondern zu lernen, wie wir sie in unserem Leben willkommen heißen können.

Jemand hat mich einmal gefragt: “Worum geht es bei dieser Aikido-Sache, die du machst?” Und ich sagte: “Es geht darum, wie man wirklich Freundschaften mit Menschen schließt.” Und sie dachten, ich würde sie auf den Arm nehmen. Oder vielleicht dachten sie, ich würde mich täuschen. “Das ist doch keine Kampfkunst: Was ist, wenn ein Feind auftaucht? Den muss man doch überwinden, oder nicht?” Das ist genau der Grund, warum die Welt so ist, wie sie ist. Die Menschen haben einen kämpferischen Geist. Ein solcher aggressiver Geist sieht keinen anderen Weg, als durch Konflikte zu erobern oder zu verteidigen.

Im Shinshin Toitsu Aikido sagen wir, dass es 3 grundlegende Möglichkeiten gibt, wie Menschen auf eine Herausforderung jeglicher Art reagieren. Ich nenne sie “Optionen”. Option A: Wir reagieren mit Power, indem wir die Mittel der Stärke, der Manipulation, des Geldes, des Wissens, der Technik, der Kraft usw. einsetzen, um das zu bekommen, was wir glauben zu brauchen oder was wir verdienen oder worauf wir ein Recht haben. Dies kann als Reaktion auf eine Person, ein Land, eine Gemeinschaft, jede Form des Regierens, sogar die Anarchie selbst, Tiere, das Wetter, Berge, Flüsse und Wälder sein. (Ich könnte hier noch mehr anführen.) Option B: Wir reagieren durch Trägheit und Ignoranz, hoffen, oft sogar beten, dass jemand anderes kommt und das Problem für uns löst, oder wir bemerken einfach nicht früh genug, dass es überhaupt ein Problem gibt. Und schließlich Option C: Anstatt zu reagieren, agieren wir, indem wir voll und ganz aufrecht stehen und uns verbinden, ohne irgendeine Absicht in unserem Geist zu haben. Das bedeutet, wie ein Berg zu stehen und ohne jeden Wunsch, ohne jedes Bedürfnis, ohne jede Anforderung und ohne jede Erwartung vorzugehen. Auf diese Weise erlauben wir der Nicht-Trennung, so zu existieren, wie sie tatsächlich schon ist, und erlauben ihr, uns zu durchdringen, ohne dass wir uns bemühen müssen, eine andere Person von unserem Bedürfnis zu überzeugen, dies auch zu erkennen.

Nun gut. Wir alle haben Option A, B und C viele Male geübt. Wenn ihr Seminare mit Shinichi Tohei Sensei besucht habt, dann wisst ihr, dass er das auch oft macht, und vor ihm hat sein Vater Koichi Tohei Sensei auch eine Version davon gemacht. Leider ist es im Aikido so, dass viele bei der Ausführung unserer Techniken A oder B oder eine Kombination aus A und B vorführen.  Wir sind vielleicht in der Lage, es zu konzeptualisieren, was gut ist, aber das ist noch nicht C. Wir müssen in der Lage sein, es durch das Gefühl im Körper geschehen zu lassen. Wir wollen sie nicht werfen, wir wollen sie nicht für uns gewinnen, und wir wollen sie nicht manipulieren. Aber können wir diesem Prinzip auch mit unserem Handeln folgen? Das ist es, was in uns gefördert wird. 

Nummer 5 ist “Führen und bewegen”. Denkt daran, dass diese Prinzipien Beschreibungen dessen sind, wie wir sein werden, wenn wir tatsächlich Shinshin Toitsu Aikido praktizieren.  Es sind keine Anordnungen, die erklären, was wir “tun sollten”. Wenn wir Aikido als Einheit von Geist und Körper praktizieren, dann werden wir mit Vertrauen führen und uns frei bewegen, wenn wir Techniken ausführen. Es geht nicht darum, was wir tun sollten. Es ist eine ganz andere Art, es auszudrücken.  Dies ist eine Beschreibung, keine Vorschrift.

Eines der Lieblingswörter von Suzuki Sensei war “osaeru“, das er von Tohei Sensei übernahm. Dieses Wort hört man heute nicht mehr so oft, oder? Ich benutze es oft im Dojo, aber die meisten Leute im Aikido benutzen es nicht oft. Osaeru bedeutet “halten” oder “bedecken” oder “einfangen”, aber ich sehe es eher als “umarmen”. Wenn jemand vor dir steht und die Absicht hat, dich auf irgendeine Weise anzugreifen, sagt Tohei Sensei, dass du ihn „osaeru-st“. Du umarmst ihn. Du schließt ihn ein. Du bringst ihn in dein Feld des Gewahrseins und schließt ihn ein, so dass er ein Teil deiner Erfahrungswelt wird. 

Wenn es heißt: “Ki dehnt sich aus”, dann ist das das, was geschieht, bevor irgendetwas passiert. Und diese anderen 4 Prinzipien sind enthalten: “Kenne den Geist deines Partners. Respektiere das Ki deines Partners. Versetze dich in die Lage deines Partners. Führe und bewege.” Diese Dinge geschehen nicht so der Reihe nach, außer vielleicht ganz am Anfang, wenn wir uns mit ihnen vertraut machen. 

In der beginnenden Aikido-Bewegung können wir uns selbst durch diese Prinzipien führen, z.B. wenn wir katatedori kokyunage tenkan machen. Wir können leicht sehen, wie wir Ki ausdehnen, den Geist unseres Partners kennen, das Ki unseres Partners respektieren, uns in die Lage unseres Partners versetzen und dann führen und bewegen. Das ist kaisho, wenn wir es auf diese Weise tun. Aber wenn wir zu gyosho und ins soshokommen, fängt es an, alles auf einmal zu passieren. Wenn wir osaeru machen, bedeutet das im Grunde, dass alle fünf dieser Prinzipien gleichzeitig wirken. Und dennoch muss osaeru stattfinden, bevor irgendeine Bewegung stattfindet. Ueshiba Sensei, der Gründer des Aikido, pflegte zu sagen: “Bevor du mich angreifst, ist es schon vorbei!” Wenn ich also ganz natürlich, ohne Absicht und daher voller Ki bin, dann ist alles vorbei, bevor es irgendeine Bewegung gibt. Das ist die Bedeutung des Aikido: Es gibt keinen Sieg über einen anderen. Das ist sehr bescheiden. 

Bedenkt dass, auf diese Weise, die fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido in keiner Zeit stattfinden. Sie geschehen nicht in einer Zeitspanne, die wir in Sekunden messen könnten. Es ist einfach wie ein Wiedererkennen. Wenn wir zum Beispiel jemanden sehen, den wir kennen, erkennen wir ihn, bevor wir daran denken, ihn zu erkennen. Ähnlich verhält es sich, wenn uns jemand im Supermarkt, im Dojo oder am Strand begegnet: In dem Moment, in dem wir uns seiner bewusst werden, machen wir osaeru. In dem Moment, in dem wir uns seiner bewusst werden, wird er automatisch in unsere Erfahrungswelt aufgenommen. Das ist also nicht etwas, das wir “tun”.  Es ist so tief verwurzelt, dass es einfach passiert.  Das ist sosho. Am Anfang ja, wir müssen es üben, ganz bewusst. Das ist kaisho. Aber sobald wir dieses Prinzip der Beziehung verstehen und es in unseren fühlenden Körper aufnehmen, wird diese Anerkennung in dem Moment, in dem wir die Gegenwart von jemandem erkennen, allumfassend sein.  Das ist es, worauf diese Prinzipien hinweisen.

Ok, vielleicht ist das genug, und ihr möchtet etwas sagen.

Schüler: Hallo Sensei. Ich danke dir. Ja, diese Prinzipien in unsere Erfahrung einbeziehen. In der letzten Stunde hast du darüber gesprochen, dass wenn wir uns selbst als Subjekt und die Welt als Objekt sehen, dann ist es um uns geschehen, wir können den Onepoint nicht halten. Das ist also nicht das, was wir tun sollten. Wir sollten einschließen, wir sollten umarmen, wir sollten eins sein, nicht getrennt. Aber, nun, das ist nicht so einfach, oder? Wir können das sagen, aber mein Problem ist, dass ich es nicht als solches erlebe. Weißt du, ich praktiziere, und trotzdem kommt der kämpfende Geist hoch und das Subjekt-Objekt-Denken kommt die ganze Zeit hoch. Das ist es also, was ich dazu zu sagen habe. Du lässt es so leicht und einfach klingen, und doch, hier bin ich nun, nicht wahr?

Nun, ich danke dir. Ich entschuldige mich dafür, wenn ich es so einfach klingen lasse. Es ist nicht leicht. Du hast Recht, es ist sehr schwierig. Hör mal, schon der berühmte japanische Lehrer Dogen sagte, die älteste Täuschung der Menschheit sei, dass es ein Selbst und einen Anderen gibt. Okay? Die Lehre von Tohei Sensei basiert auf der Überwindung dieser Täuschung. Das meint Tohei Sensei, wenn er sagt: “Das Ziel unserer Praxis ist es, eins mit dem Universum zu sein.” 

Die Japaner sind sehr liberal in ihrer religiösen Praxis. Buddhismus und Shintoismus sind sehr unterschiedliche Formen der religiösen Praxis.  Und doch kann eine japanische Familie sogar im selben Haus sowohl den Buddha als auch die Shinto-Götter verehren. Im Aikido selbst haben wir viele Einflüsse aus dem Buddhismus, aber auch aus dem Shintoismus. Wir haben das Ende des Leidens durch Vereinigung, und gleichzeitig ehren wir die Kraft der Manifestation der natürlichen Welt, ähnlich wie die Religionen der indigenen Völker Amerikas. Im Aikido leben diese beiden Aspekte sehr komfortabel miteinander. Natürlich glauben wir seit unserer Geburt an die Trennung, und jeder andere Mensch, dem wir begegnen, leidet unter derselben Täuschung, indem er dieselbe Interpretation von Sinnesdaten in sein Unterbewusstsein einspeist, wieder und wieder, immer und immer wieder. Also nein, es wird nicht einfach sein, sich daraus heraus zu entwickeln. 

Weißt du, ich denke, solange wir leben, bleibt dieses Thema der Trennung irgendwie in unserem Wesen.  In vielerlei Hinsicht muss es sogar in uns bleiben, denn wir müssen in der Lage sein, am Ende des Tages nach Hause zu finden, nicht wahr?  Wir müssen uns daran erinnern, dass unser Zuhause in dieser Straße liegt, nicht in jener. Der Schlüssel liegt darin, beide Welten gleichzeitig zu sehen und in ihnen zu leben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier kein “falsch” gibt. Unter einer Täuschung zu leiden, macht uns nicht falsch oder schlecht.  Eine Täuschung ist nur ein Missverständnis; wir entscheiden uns nicht für die eine oder andere Seite. Die Realität ist nicht auf diese Weise begrenzt. Wir müssen in der Lage sein, gleichzeitig in der dualistischen relativen Welt (d.h. nachts den Weg nach Hause zu finden) und in der nicht-dualen absoluten Welt (d.h. zu sehen, dass es kein wohin gibt) zu leben. Zu wissen, dass es da eine andere Person gibt, die versucht, dich zu treten oder zu schlagen oder dich auf irgendeine Weise zurückzuhalten, während du gleichzeitig die Einheit erkennst und erfährst, ist also das ganze Leben. Es geht nicht darum, irgendeinen Aspekt dessen, was in diesem Leben geschieht, zu leugnen. 

Dogen sagte, die älteste Täuschung sei Subjekt/Objekt, ja, das ist der Fall. Aber so lange wir in einem Körper sind, müssen wir respektieren, dass wir für diesen Körper verantwortlich sind. Das ist Teil des Respekts für das Ki unseres Gegenübers, der Respekt für uns selbst.  Wir haben uns entschieden, hier in diesem Körper zu sein und diesen Evolutionsprozess zu durchlaufen, also müssen wir die Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen. 

Gleichzeitig sind wir alle das Zentrum unseres Universums, und dieses Universum besteht aus allen und allem, der gesamten Natur, der gesamten Menschheit. Wir alle sind das Zentrum davon. Wie ist das möglich? Ich kann euch darüber erzählen. Ihr seht mich ständig darauf hinweisen. Aber bitte nehmen Sie das, was ich sage, nicht als Evangelium. Natürlich muss jeder von uns zu seiner eigenen Zeit und auf seine eigene Weise zu dieser Erkenntnis gelangen.  Wir werden uns damit abfinden, es erkennen, es schätzen und dafür dankbar sein. 

Wenn du darauf konditioniert bist, gewinnen zu müssen, ist das ein natürlicher Impuls. Und wenn du es dann oft genug machst und merkst, dass es nicht funktioniert, letztendlich, dann kannst du erkennen, warum und wie Aikido funktioniert.  Aikido funktioniert, weil es nicht kämpft, weil da nichts ist, wofür man kämpft.

Aikido ist nicht-erreichend, leer von Bedürfnissen, von Anforderungen, von Erwartungen. Es bedeutet einfach, mit sich selbst und dem anderen präsent zu sein. Es ist so natürlich wie das Zusammensein mit einem Freund, man sitzt zusammen, ohne etwas sagen zu müssen. Deshalb habe ich gesagt, dass Aikido-Praxis bedeutet, wie man ein Freund ist. Lerne, wie man ein Freund ist! 

Als ich mit Aikido anfing, wusste ich nicht, wie man jemandem ein Freund ist. Ich hatte keine Ahnung davon. Ich sammelte nur für mich selbst, holte mir, was ich vom Lehrer und der Lehre brauchte, um voranzukommen und ein Gewinner zu sein. Ein Freund zu sein bedeutet, einen anderen zu unterstützen, ihm zuzuhören, ihn in seinem Verständnis und in seinem Glück zu unterstützen.

Schüler: Vielen Dank, Sensei. Ich habe mit Aikido angefangen, um unbesiegbar zu werden, Sensei. Als ich jung war, wollte ich unbesiegbar werden, also begann ich mit den Kampfkünsten. Als du das letzte Mal nach Europa kamst, sprachst du darüber, wie Tohei Sensei einmal sagte: “Aikido ist keine Kampfkunst.” Ich fühlte mich frustriert und verloren. Aber jetzt liebe ich diese Zoom-Stunden, denn sie haben nichts mit der Ausführung von Techniken zu tun, nichts mit dem Training, wie man unbesiegbar wird. Hier sehen wir tatsächlich, dass das Training etwas anderes ist, als ich dachte. Aber in dem Moment, in dem ich anfange, Techniken zu üben, kommen mir die Kampfkunstsachen in den Sinn: wie man einen Partner wirft, wie man einen Partner besiegt und so weiter. In diesen Zoom-Stunden sind die Dinge also sehr klar, aber sobald ich mit der Technik anfange, taucht die Kampfkunstsache wieder auf.

Du bist ein sehr junger Mann, also versuch bitte nicht, ein alter Mann zu sein, wenn du ein junger Mann bist. Sei dankbar, dass du ein junger Mann bist und diese Probleme hast. Wenn ich höre, wie du darüber sprichst, empfinde ich das nicht als ein Problem. Das glaube ich nicht. Ich glaube, das Universum geht mit dir so um, so wie es mit mir und jedem anderen Menschen umgeht, so wie du es zulässt. Natürlich können diese Stunden, die wir auf Zoom machen, hilfreich sein, weil wir uns dem Thema sehr direkt nähern, uns dem Ganzen stellen und sehr klar darüber sprechen. Wenn wir Techniken üben, ignorieren wir oft diesen Teil davon. Wir können blind für das Unsichtbare sein und uns nur auf das konzentrieren, was einfach ist, das Sichtbare. Deshalb wollte Tohei Sensei immer, dass zuerst der Ki-Unterricht und dann der Aikido-Unterricht stattfindet, weil er weiß, dass dies das Natürlichste ist: über die Technik und die Körperdynamik nachzudenken und darüber, wie man wirft und wie man sich bewegt, wie schön es ist und wie viel Spaß es macht. Das ist alles großartig, das ist in Ordnung. Aber vergiss nicht den grundlegenden Ki-Unterricht. Das steht immer an erster Stelle.

Schüler:  Sensei, ich komme vom Militär, und beim Militär war es für mich so faszinierend, dass wir uns mit “einschließen und zerstören” beschäftigten, was für mich dann mit “unterwerfen und kontrollieren” übersetzt wurde, was mir wirklich gefiel. Das war sehr attraktiv für mich im 

Aikido. Ursprünglich dachte ich also: “Nein, lass uns sie einfach töten.” Und dann habe ich mich weiterentwickelt zu: “Nein, lass uns sie einfach kontrollieren, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Dieses Training spricht mich an, weil ich völlig verblendet war und es nicht verstanden habe. Ich habe die Prinzipien so umgestaltet, wie ich sie sehen wollte. Und ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich denke: “Nun, eigentlich kann ich es auch so interpretieren.” Weißt du, das ist ein ständiger Kampf, jeden Tag. Und die Prinzipien zu sehen, gerade die, über die du heute sprichst – die Aikido-Prinzipien – ist so bedeutsam.  Ich werde sagen, dass ich immer noch denke, dass ich Aikido unterrichten kann, als wäre es nur eine Technik, eine Form, und dass ich sehr gut darin bin. Das bedeutet natürlich, dass es für mich immer noch jeden Tag ein Kampf ist. 

Ok, die letzten drei Leute haben mir also im Grunde das Gleiche gesagt. Und ich möchte wiederholen, dass das kein Problem ist. Was sie beschreiben, ist kein Problem, sondern der Prozess selbst. Jeder – ob man nun beim Militär war oder nicht – jeder wächst in dieser Welt mit einem Gefühl der Trennung zwischen sich selbst und allen anderen auf und glaubt fest daran, dass es genau so ist. Und alle Techniken der Welt zielen auf jemanden ab, der getrennt ist, um damit diese anderen Menschen zu beherrschen und zu kontrollieren, damit sie uns nicht beherrschen und kontrollieren. Richtig? Das ist die Art und Weise, wie jeder aufwächst und es sieht. So wird es in allen Filmen, Zeitungen und im Fernsehen dargestellt.  Du hast also eine Menge Gesellschaft. Die ganze Welt ist so. Stimmt’s? Es ist natürlich automatisch, dass jeder so aufwächst, also müssen wir alle damit umgehen, wir sind alle auf dem einen oder anderen Level in diesen Prozess involviert. 

Und noch einmal: Es geht nicht um einen Vergleich. Es ist kein Wettbewerb zu sehen, wer auf einer höheren Stufe steht. Es geht nicht so sehr darum, dass es ein höheres oder niedrigeres Stadium gibt, sondern vielmehr darum, dass dies bei jedem von uns anders ist. Wir haben alle einen so unterschiedlichen Hintergrund und einen so unterschiedlichen Input in unserem Unterbewusstsein, dass das, was aus uns herauskommt, im Prinzip genau dasselbe sein mag, aber es hat eine ganz andere Reihe von Umständen, die es geschaffen haben, die die Art von Reaktivität verursacht haben, die wir sehen.

Wenn wir also Aikido praktizieren, müssen wir diese Dinge für uns selbst bemerken, denn wie du sagtest, passen wir die Prinzipien an das an, was wir glauben. Wir müssen bemerken, wenn wir das tun. Manchmal ist das schmerzhaft und manchmal ist es einfach verwirrend. Und wenn es schmerzhaft oder verwirrend ist, dann osaeru wir es einfach. Wir nehmen es an und bleiben dabei. Wir müssen Geduld und Dankbarkeit lernen. Und damit können wir alle auf eine sehr starke und nützliche Weise weitermachen. 

Schüler: Hallo, Sensei. Hallo, alle zusammen. Ich erinnere mich, dass Morihei Ueshiba Sensej sagte, dass es wichtig ist, wenn uns jemand herausfordert, müssen wir die Aggression in der anderen Person lassen. Auf diese Weise verwandelt Aikido die Aggression in einen nicht-aggressiven Zustand. Unsere Techniken müssen also immer stark sein, aber wir müssen darauf achten, dass wir niemanden verletzen. Wir sind sehr zerbrechliche Geschöpfe. 

Okay, das ist sehr schön. Ich danke dir. Ja, Aikido bietet diese Art von Fürsorge, aber wie genau? Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Meine Tochter ist mit einem brasilianischen Mann aus Rio de Janeiro verheiratet. Und als er nach Hawaii einwanderte, kam er mit seinen beiden besten Freunden. Einer von ihnen unterrichtet Capoeira und der andere Brazilian Jiu Jitsu. Der Jiu Jitsu-Typ ist groß. Er ist einige Zentimeter größer als ich, breiter als ich und körperlich viel stärker als ich. Ich habe den achten Dan in Aikido, also waren sie sehr neugierig: Was ist denn da drüben los?  Sie fragten sich, warum ich nicht über Aikido spreche, während sie über nichts anderes als über Jiu Jitsu und Capoeira reden.

Eines Abends saßen wir auf meiner Terrasse und der Jiu Jitsu-Typ stand auf und sagte: “Was würdest du tun, wenn ich dich packen würde? Ich kann dich leicht überwältigen, weißt du … Jiu Jitsu ist sehr kraftvoll.” Und dieser Typ ist eindeutig ein sehr starker Typ. Und ich fragte: “Darf ich aufstehen?” Und er sagte aufgeregt: “Ja!”, vielleicht in der Annahme, dass es gleich etwas Action geben würde. Als ich langsam zu ihm hinüberging, sah er ein wenig verwirrt aus. Bald stand ich sehr, sehr nahe bei ihm. Ich drückte meinen Körper ganz dicht an ihn, so dass sein Gesicht ganz nah war. Ich starrte ihn nicht an, sondern legte meinen Kopf an seine riesige Brust und hielt seine Arme sanft mit meinen Händen fest.  Wir blieben noch ein oder zwei Augenblicke so. Es war sehr still und sehr ruhig.  Ich schaute zu ihm auf, und er hatte Tränen in den Augen. Und dann sagte er: “Oh… Ok, Sensei, ich verstehe. Danke”, und er entfernte sich und setzte sich hin. 

Ich bin mir also nicht so sicher, ob es wirklich eine Frage von weicher oder starker Technik ist.  Es braucht gar nicht immer eine Technik, oder?

Alle sagen, diese Praxis sei wirklich schwierig. Ja, sie ist wirklich schwierig, aber zum Glück können wir sie üben.  Wenn es nicht schwierig wäre, würde es sich nicht lohnen zu üben, oder? Wir geben unser ganzes Leben für diese Praxis her, weil sie so wertvoll ist. Und sie verändert uns grundlegend als Menschen. Und je älter man wird und je mehr man praktiziert, desto mehr erkennt man, wie kraftvoll und transformativ diese Art von Praxis ist. Deshalb freue ich mich jedes Mal, wenn ich sehe, dass du zu diesem Kurs kommst, jedes Mal, wenn ich dich hier erkenne. Danke, dass du gekommen bist.

Ich möchte euch nochmals danken. Domo arigato gozaimashita.