Der Lehrer und der Schüler

Im Allgemeinen haben die Schüler im Westen wenig Verständnis für die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Viele Schüler haben keine Ahnung, wie sie sich gegenüber jemandem verhalten sollen, der sie unterstützt, und fühlen sich vielleicht sogar eingeschüchtert. Deshalb müssen wir als Lehrer hier im Westen sehr geduldig mit ihnen sein, sie unterstützen und ihnen helfen, den wahren Zweck einer solchen Beziehung zu verstehen. Schließlich sind wir hier, um unter anderem Respekt für alle Wesen zu lernen.

In den ersten Jahren, bis zum ersten Grad des schwarzen Gürtels, fängt ein Schüler der Ki-Society gerade erst an, den Zweck davon zu verstehen einen Lehrer zu haben, daher erwarten wir nicht viel.  Wenn es jedoch zum zweiten und dritten Grad des schwarzen Gürtels weitergeht, wird es natürlich Zeit zu sehen, wie der Schüler langsam zu erwachen beginnt und sich weniger auf seine körperlichen Fähigkeiten und mehr auf seine charakterliche Reife verlässt.

Trotz der Farbe unserer Gürtel ist nichts in der Natur schwarz oder weiß.   Niemand ist völlig ohne Einsicht, und niemand ist völlig frei von Ignoranz.  Jeder befindet sich irgendwo in diesem erstaunlichen Prozess des Erwachens. 

Als Lehrer wollen wir das Geheimnis finden, wie wir jeden Schüler unterstützen können. Das bedeutet, so weit wie möglich herauszufinden, wo sich der Schüler in dieser Grauzone befindet.  Unsere Aufgabe ist es, den Weg zu zeigen, dem Schüler die Werkzeuge zu geben, die er braucht, um den Weg zu entdecken, und ihm dann zu helfen, seine Hindernisse auf diesem Weg zu beseitigen.  Natürlich wollen wir, dass jeder Schüler in der Lage ist, den größtmöglichen Nutzen aus seinem Dasein in diesem Körper zu ziehen.  Der Weg, um genau hier und jetzt zu sein, hängt immer davon ab, dass jeder von uns zum vollen Bewusstsein der Vereinigung von Geist und Körper erwacht und entdeckt, wie dieser Vereinigung am besten gedient ist. 

Darüber hinaus wollen wir uns immer wieder vor Augen führen, wie unglaublich schwierig dieser Prozess für jeden von uns ist.  Deshalb müssen wir denjenigen, die es bis hierher geschafft haben, den größten Respekt zollen und selbstlos dienen, ohne eine Belohnung zu erwarten, einschließlich der Tatsache, ob sich der Schüler selbst in dieser Arbeit weiterentwickelt hat oder nicht.

Für diejenigen, die zu lehren bereit sind, ist das keine kleine Leistung. Das Paradoxe daran ist, dass wir den wahren Geisteszustand eines jeden Schülers herausfinden müssen, während wir uns gleichzeitig mit einem Urteil über diesen Geisteszustand zurückhalten.  Dies scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein, und das wird sie auch sein, wenn wir meinen etwas tun um den anderen zu heilen. Sobald wir jedoch anfangen, einfach dem Weg zu folgen, der uns zu Füssen gelegt wurde, Moment für Moment, dann beginnt sich das Geheimnis zu enthüllen, und das “Lehren” wird viel einfacher.

Der am häufigsten anzutreffende Anfänger in allen Formen des Aikido, einschließlich Shinshin Toitsu Aikido, ist jemand, der immer noch körperliche Fähigkeiten, Geschwindigkeit, Beweglichkeit und Kraft idealisiert.  Aus diesem Grund konzentrieren sich viele Lehrer im Ki Aikido mehr darauf, die physische Seite der Praxis zu lehren, da sie unbewusst von ihren Schülern in diese Richtung gedrängt werden. Koichi Tohei Sensei war dafür immer weniger empfänglich, je älter er wurde.  In der zweiten Hälfte seines Lebens geschah es, dass er eine Wirbelsäulenverletzung erlitt.  Die Ärzte versuchten, seine Wirbelsäule wieder zusammen zu setzen und zu stabilisieren, aber irgendetwas an dieser Operation schlug fehl, und danach musste er meistens in einem Stuhl sitzen, um Aikido zu unterrichten.  Das hat natürlich seine Sichtweise auf den bleibenden Wert dieser Praxis völlig verändert.  Glücklicherweise war ich, als ich mit Tohei Sensei zu trainieren begann, noch jung, hatte aber schon ein intensives spirituelles Training hinter mir, bevor ich Aikido kennenlernte, so dass ich sehr stark von seiner spirituellen Seite beeinflusst wurde.  Und alles, was mit Suzuki Sensei geschah (mit dem ich täglich trainierte und der einen starken Charakter hatte), diente nur dazu, die Lehre von Tohei Sensei zu verstärken und ein starkes Beispiel dafür zu liefern.

Wir wollen immer zulassen, dass der Schüler in seinem eigenen Tempo voran kommt.  Er wird den Lehrer hören, wenn der zur Gruppe spricht, und er wird die Bewegungen des Lehrers beobachten. Und wenn er die Worte und die Bewegung mag, ist das ein Anfang.  Dann wird er früher oder später, falls er jemals zu einer nützlichen Person außerhalb des Dojos werden soll, bemerken, dass das, was er an dem Lehrer mag, die Ruhe ist, und er wird anfangen, sich zu fragen, woher diese Ruhe kommt und was das damit zu tun hat, dass man zueinander wahrhaftig ist.  Dann, wenn er soweit ist, wird er zum Lehrer kommen und ihn fragen.

Eine wichtige Regel, die wir uns merken sollten, wenn wir uns als Lehrer in dieser Praxis weiterentwickeln, ist, dass wir Macht niemals bewusst einsetzen dürfen.  Sie ist, in welchem Ausmaß auch immer, bei uns, und das ist gut so, aber wir versuchen nicht, uns auf sie zu konzentrieren oder sie zu verstärken oder sie zu benutzen, um andere zu beeinflussen.  Ich weiß, ich weiß – das ist das Gegenteil von dem, was die Welt gerne glaubt, dass es funktioniert.  Warum merken wir so oft nicht, dass dieses egoistische Machtbedürfnis die Quelle all unseres Leidens ist?

Der Schüler muss sich erkennen und verstehen, dass es in seiner Verantwortung liegt, mutig zu sein, dem Lehrer direkt gegenüberzutreten und dessen Anweisungen sorgfältig zu befolgen. Wenn nicht, warum sollte man dann in einem Dojo mit einem Lehrer trainieren?  Die meisten Schüler, ob im Osten oder im Westen, finden es jedoch äußerst schwierig, der Lehre zu folgen, ohne sie an ihr eigenes Level der Bequemlichkeit anzupassen. 

Für die Lehrer ist es natürlich eine Kunst, zu lernen, wie man mit dieser allzu häufigen Art von Schülern umgeht, ohne sich durch ihr Verhalten beleidigt zu fühlen. Schließlich sind sie gekommen, um von uns zu lernen, also können wir nicht erwarten, dass sie es schon wissen.

Es kommt nicht darauf an, ob eine bestimmte Person der richtige Lehrer für dich ist.  Wichtig ist, ob du der richtige Schüler bist oder nicht.  Wenn du als Schüler unter der narzisstischen Illusion leidest, dass der Lehrer genau richtig sein muss, um dich zu unterrichten, dann kann es sehr schwierig sein, den perfekten Lehrer für dich zu finden.  Wenn du zum Beispiel die Vorstellung hast, dass du bestimmte Ideen akzeptierst, weil sie dir gefallen, und andere Ideen verwirfst, weil sie dir nicht gefallen, dann verschwendest du deine Zeit mit jeglichem Lehrer. Ob der Lehrer ein hervorragender oder ein schlechter Lehrer ist, wird zur Nebensache, wenn du als Schüler die Gelegenheit, die sich dir bietet, nicht voll nutzt.  

Die wichtigste Fähigkeit, die du mit einem Lehrer lernen musst, ist zuzuhören. Wenn du dem Lehrer mit einem urteilsfreien, offenen Geist zuhören kannst, dann kannst du beginnen, deinem eigenen Lehrer zuzuhören, der in dir wohnt.

Bitte verstehe das nicht falsch.  “Zuhören” bedeutet nicht, alles zu glauben, was der Lehrer dir sagt. Wie ich oft sage, glaube bitte nichts von dem, was ich dir sage, sondern finde selbst heraus, ob das, was ich dir vorschlage, funktioniert oder nicht. 

Mache die Arbeit, aber lerne zuzuhören.  Es kann sein, dass etwas, was der Lehrer sagt oder tut, etwas sehr Positives und Wiedererkennbares in dir auslöst, und das ist wunderbar. Aber der Lehrer wird auch Dinge sagen, von denen du keine Ahnung hast, wie sie gemeint sind, und die vielleicht sogar unverstehbar klingen.  Wenn das passiert, solltest du diese Dinge nicht zurückweisen, sondern sie einfach stehen lassen. Du musst überhaupt nichts mit ihnen anfangen. 

Mein Lehrer, Suzuki Sensei, erzählte mir, dass bei vielen Gelegenheiten, wenn er seinem Lehrer zuhörte, Tohei Sensei Dinge sagte, die er nicht verstand.  Und dann, 20 oder 30 Jahre später, saß Suzuki Sensei in Meditation oder machte einen Spaziergang oder tat überhaupt nichts Wichtiges, und plötzlich wurde ihm klar: “Oh, das ist es, was Tohei Sensei an diesem Tag meinte!”  Das lag daran, dass er Tohei Sensei einfach zuhörte, ohne zu urteilen. Da er sein Lehrer war, lehnte er nichts ab, was er sagte. Wenn er etwas nicht verstand, ließ er es einfach in sich ruhen und wartete darauf, dass er es verinnerlichte. 

Das ist also die Art und Weise, wie wir mit dem Lehrer interagieren, und es ist in unserem eigenen Interesse. Wir tun dies nicht für den Lehrer.  Der Lehrer tut das Gleiche. 

Mutter Teresa wurde einmal von Dan Rather, dem Nachrichtensprecher von CBS, interviewt.  Wie Herr Rather berichtete, fragte er sie: „Was sagen Sie, wenn Sie zu Gott beten, Mutter Teresa?“ Sie antwortete: „Nichts. Ich höre zu.“ Daraufhin fragte er: „Und was sagt Gott dann?“ Und sie sagte: „Nichts. Er hört auch zu.“

Das Zuhören zu lernen, ohne zu urteilen, ist die Hauptfunktion der Beziehung zwischen Aikido-Lehrer und -Schüler.

C. Curtis

Haiku, 2022