Charakter

Guten Abend, guten Morgen allerseits. Onegaishimasu. Es ist sehr schön, euch alle wiederzusehen. Heute Abend möchte ich euch Shokushu Nr. 21 “Setsudo” vorlesen.

“Es gibt keine selbstsüchtige Person, die den Weg des Universums erfüllt. Wenn du zu den Prinzipien und dem Weg des Universums erwachst, wird dir vom Universum die Verantwortung gegeben, sie in der Welt zu teilen.
Sage nicht, dass du nicht die Kraft hast, den Menschen zu helfen. Wenn du einen Tag diese Erfahrung machst, bist du bereits ein Lehrer für diese Erfahrung. Die Welt ist voll von Menschen, die verloren sind und an einem ungesunden Geist leiden. Lasst uns dieses Erwachen von ganzem Herzen mit anderen teilen.”

Heute Abend beschäftigen wir uns mit einem weiteren prägnanten Satz von Koichi Tohei Sensei. Dieser lautet:

“Dein Charakter zeigt sich in deiner Technik. Wenn dein Charakter korrigiert wird, wird die Technik korrigiert.”

Sayaka, würdest du das bitte auf Japanisch für uns lesen? (Sayaka liest)

Ich danke dir vielmals.

Eine andere Art, das zu sagen, ist im Grunde einfach “Geist führt Körper”. Richtig? Nun, das ist Tohei Sensei’s primäres Prinzip in diesem Universum. Wisst ihr, ich glaube, ich habe schon einmal gesagt, dass, wenn er “das Prinzip” sagt, im Singular, dann meint er, dass der Geist den Körper führt. Wenn er von “den Prinzipien” spricht, im Plural, sind es wahrscheinlich seine drei Prinzipien des Universums (das Universum ist eine unendliche Kugel mit einem unendlichen Radius, eine unendliche Ansammlung von unendlich kleinen Teilchen, und es verändert sich ständig). Aber es könnte auch eine seiner anderen Listen von Prinzipien sein, wie zum Beispiel die “Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido.”

Diese Phrase mag wie etwas leicht Verständliches erscheinen. Oder? Aber während wir reifen und durch den Prozess unseres Trainings gehen, ist dies ganz klar ein Prozess der Reifung unseres Charakters, nicht wahr? Lasst mich bitte kurz klären, was ich mit Charakter meine. Zunächst ist da unser gegenwärtiger Geisteszustand, wenn wir eine Technik ausführen oder wenn wir außerhalb der Matte in Beziehung zu einer anderen Person stehen. Da kann Nervosität oder eine Art von Angst sein. Oder es könnte Aufregung sein, oder Verwunderung, oder Ruhe. Das sind keine Charaktereigenschaften; das sind Geisteszustände. Aber tief unter diesem Geisteszustand liegt eine Charaktereigenschaft. Und das kann eine positive Eigenschaft sein, wie z.B. liebevolle Freundlichkeit, oder eine Großzügigkeit oder Mitgefühl sein. Aber es kann auch eine negative sein, wie Gier, Neid oder Eifersucht. Und normalerweise, wenn wir einen irgendwie unruhigen Geisteszustand haben, dann liegt das daran, dass wir eine negative Charaktereigenschaft haben, die noch nicht in uns aufgelöst wurde. Während wir also durch den Prozess der Reifung durch unsere Aikido-Praxis gehen, verfeinern wir allmählich unsere Charaktereigenschaften. 

Meine Frage ist also: Tohei Sensei spricht immer davon, dass unser bewusster Geist aus unserem Unterbewusstsein schöpft. Und er sagt auch, dass unser Unterbewusstsein eine Ansammlung unserer vergangenen Erfahrungen und unseres Wissens ist. Heißt das also, dass jemand, der einen positiven Charakter hat, ein Unterbewusstsein hat, das voll von etwas ist oder leer von etwas?

Okay, lasst uns ein wenig Ki-Atmung machen.

(20 Minuten Ki-Atmung)

In Ordnung, ist also das Unterbewusstsein leer oder voll, bei jemandem, der einen “guten Charakter” hat? Ich möchte vorschlagen, dass die Antwort beides gleichzeitig ist.

Wenn uns jemand betrügt oder wir auf irgendeine Weise schlecht behandelt werden (wie es uns allen irgendwann in der Vergangenheit ergangen ist), tragen wir diesen Schmerz in unserem Unterbewusstsein, und das führt dazu, dass wir andere in der Zukunft als nicht vertrauenswürdig beurteilen. Mit anderen Worten: Wenn wir eine andere Person auf eine bestimmte Art und Weise beurteilen, basiert dieses Urteil auf etwas, das uns in der Vergangenheit widerfahren ist. Wir werden vielleicht misstrauisch gegenüber ihnen. Das ist dann der Fall, wenn unser Unterbewusstsein mit negativen Erfahrungen gefüllt ist.

Aber wenn unser Unterbewusstsein mit positiven Erfahrungen gefüllt ist, gibt es kein solches Urteil. Es gibt nur eine Offenheit und eine Bereitschaft, zu erforschen und zu entdecken, was es ist, das da passiert. Es geht nicht darum, zu denken, dass man im Voraus weiß, was passiert. Natürlich ist nichts absolut in die eine oder andere Richtung, also ist das Unterbewusstsein immer in einem Zustand der Evolution, was seinen Inhalt angeht.

Also, wie bezieht sich das auf unsere Aikido-Praxis? Nun, wenn der Uke uns angreift, nimmt er freiwillig irgendein Urteil an, er hat irgendeine Idee, und als Ergebnis dieser Idee gibt es etwas, das er versucht, uns anzutun. Natürlich, im Dojo spielt der Uke nur eine Rolle. Aber wenn sie richtig gespielt wird, wenn sie überzeugend gespielt wird, dann repräsentiert die Rolle jemanden, der uns auf eine bestimmte negative Weise beurteilt. Was wir also im Aikido als Nage lernen, ist, jemandem gegenüberzutreten, der uns beurteilt, ohne ihn zu beurteilen. Oder mit anderen Worten, unser Charakter muss frei von jeglichen Ideen sein. Unser Geist ist offen und akzeptierend. Und das bedeutet, dass das Urteil, das der Angreifer hat, uns tatsächlich eine Öffnung verschafft, in die wir eintreten können, einen Fokus der Intention der anderen Person, den wir nutzen können.

Und schon sind wir bei den “Fünf Prinzipien des Shinshin Toitsu Aikido”. Die fünf Prinzipien sind, mal sehen: 1) Ki fliesst, 2) erkenne den Geist deines Gegenübers (wisse, was sein Urteil ist, wisse, was er versucht zu tun), 3) respektiere das Ki deines Gegenübers (erinnere dich daran, dass du nicht über ihn urteilst, er urteilt über dich, dass du so oder so bist). Wir respektieren also, was auch immer auftauchen mag, wir 4) versetzen uns in die Lage unseres Gegenübers. Und das können wir nur dann effektiv tun, wenn wir unserem Partner folgen. Wenn wir daran denken, unseren Partner zu führen, bedeutet das, dass wir urteilen, dass wir versuchen, die andere Person zu kontrollieren, dass wir versuchen, der anderen Person etwas anzutun. Stattdessen folgen wir ihrer Absicht und bewegen uns gemeinsam. Wo auch immer ihr von da an hingeht, ihr bewegt euch mit großem Vertrauen zusammen. Und weil dieses Urteil, diese Absicht der anderen Person, eingefangen wird, folgt er von da an, wohin wir auch gehen, also 5) führen und bewegen.

Das ist der Grund, warum Tohei Sensei davon spricht, wie wichtig es ist, dass der Charakter korrigiert wird. Charakter ist etwas, das wir entwickelt haben. Es ist nicht etwas, das wir im Moment sorgfältig erschaffen. Mit anderen Worten, wir wollen uns nicht selbst beobachten, um sicher zu sein, dass wir etwas korrekt machen. Nein, nein, nein, das ist ein unreifes Missverständnis. Ein Charakter, der frei von Urteilen ist, muss sich überhaupt nicht selbst beobachten. Der Ausdruck des Charakters erfolgt automatisch, sei es auf der Matte, auf einer Party oder irgendwo in irgendeiner Situation. Er beobachtet sich nie selbst, weil es keine Notwendigkeit dazu gibt. Der Charakter einer Person, die sich ständig selbst beobachtet, um zu versuchen, korrekt oder nach einer Vorstellung von Moral oder Regeln zu handeln, ist ein unreifer Charakter. Ein Charakter, der reif und frei ist, ist frei von Urteilen, weil er oder sie frei von Negativität im Unterbewusstsein ist. Dann können wir uns, was auch immer geschieht, wer auch immer angreift, wer auch immer kommt, leicht mit ihnen verbinden, wir können sie akzeptieren und sie umarmen.

Natürlich ist keiner von uns perfekt. Niemandes Unterbewusstsein ist vollkommen klar und positiv, nicht wahr? Wir reagieren also manchmal, wir haben Momente der Reaktivität, wir haben immer noch Urteile, sie tauchen immer wieder in unserem Leben auf.

Das ist der Grund, warum wir Meditation üben, damit wir, sobald es auftaucht, oder sobald wie möglich, (genau wie beim Meditieren), einfach in den Zustand des Nicht-Urteilens zurückkehren.

Ich denke, das ist genug für jetzt. Prakash ist heute Abend euer Moderator. Er wird euch also euren Diskussionsgruppen zuweisen, und ich sehe euch dann in 15 Minuten.

(15 Minuten Gruppendiskussion)

In Ordnung, fangen wir an.

Schüler: Ich habe eine Frage, die sich für mich ergeben hat. Im westlichen Sprachgebrauch wird das Ego oder die Persönlichkeit oft als “Charakterstruktur” bezeichnet. Also, ich habe mich in meinem Training damit beschäftigt, dass ich das Gefühl habe, dass sich mein Charakter auflöst, dass ich transparenter werde und weniger mit meinem Charakter verbunden bin.

Ja…und?

Schüler: Und… wie wir besprochen haben, haben wir gesehen, dass es einen Reifungsprozess gibt, dass, je mehr man mit seinem Charakter identifiziert war, desto mehr Konflikte und, du weisst schon, Zusammenstöße gab es. Aber je weniger man identifiziert war, desto mehr war man in Harmonie mit dem Universum.

Okay, nun, ich denke, das ist eine gute Zusammenfassung. Das Tückische daran ist, dass wir im Grunde genommen nicht in der Lage sind, uns selbst einfach in Ruhe zu lassen. Wir sind davon besessen, uns selbst zu beobachten, um korrekt zu sein. Und so bleiben wir, selbst wenn wir empor steigen, uns irgendwie sehr bewusst von und sehr zufrieden mit diesem Emporsteigen.

Für mich ist Persönlichkeit nicht dasselbe wie Charakter, Gemütszustand nicht dasselbe wie Charakter, und Ego ist nicht dasselbe wie Charakter. Charakter ist unser grundlegendes Erkennen dessen, was ist. Und folglich, was auch immer die Natur dieses Erkennens ist, diktiert dies sofort und automatisch und ohne Zögern, wie wir andere Menschen und Umstände sehen. Das ist es also, was ich über vergangene Leben, vergangene Erfahrungen und Wissen in unserem Unterbewusstsein erwähnt habe. Diese Vergangenheit bringt Reaktivität hervor, richtig? Sie bringt Urteile hervor. Aber wenn wir diese vergangenen Verletzungen wirklich vollständig erleben, wenn wir sie wirklich vollständig wahrnehmen und zulassen, dass diese negativen Gefühle vollständig in uns gefühlt werden, z.B. in der Meditation, dann wird das Unterbewusstsein nach und nach wirklich aus dem Zustand heraus transformiert, die ganze Zeit über andere kontrollieren zu müssen.

Wir scheinen so besessen davon zu sein, jeden zu etikettieren, und dann versuchen wir, all die Etiketten zusammenzufügen, um die Idee des gesamten Wesens, von uns selbst und das anderer Menschen, die wir kennen, zu verstehen, während das, was wir hier wirklich wollen, die Freiheit von all dem ist. Richtig?

Das Wunderbare, das ich an der Lehre von Tohei Sensei und Suzuki Sensei liebe, ist, dass die Quintessenz ist, sich immer frei zu bewegen, ohne zu zögern. Ich verstehe das so, dass man nicht nur körperlich, sondern in jeder Hinsicht frei reagiert, ohne zu zögern.

Schüler: Ja, das klärt das für mich auf. Ich danke dir.

Okay, ich danke dir.

Schüler: Mir wurde beigebracht, dass das Unterbewusstsein unser Überlebensmechanismus ist, und dass das Unterbewusstsein tatsächlich schneller auf eine Situation reagiert als der bewusste Verstand. Und ich habe mich gefragt, ob du weisst, ob aufgrund unseres Trainings im Aikido, wenn wir unseren Geist und Körper vereinen, der bewusste Verstand wie ein Leinen-System ist, so dass, wenn wir eine unterbewusste Reaktion haben, diese durch unseren trainierten bewussten Verstand abgemildert wird, um nichts Schädliches zu tun, oder, du weisst schon, wertend, negativ? Zum Beispiel haben die meisten Menschen Angst vor Feuer, aber wir haben unsere Ersthelfer, die ausgebildet sind, insbesondere Feuerwehrleute, in ein brennendes Gebäude zu gehen und den Menschen heraus zu helfen. Ist ihr Geist und ihr Körper so trainiert, dass sie auf eine positive Art und Weise funktionieren und einfach ohne Angst oder Negativität, die die Situation verschlimmern würde, reagieren können?

Natürlich haben wir dieses gleiche Training im Aikido. Jede Disziplin hat diese Art von Training, wo wir lernen, uns in einer gefährlichen Situation vorwärts zu bewegen und uns selbst und die Elemente innerhalb dieser Sphäre zu kontrollieren, so weit wie es menschlich möglich ist. Natürlich, wenn wir außerhalb dieser Sphäre gehen, in der wir etwas Training und etwas Kontrolle haben, können wir sehr wohl verbrannt werden. Oder wir können jemand anderem Schaden zufügen. Wir lernen Techniken, die uns ein gewisses Maß an Kontrolle in sehr begrenzten Situationen bieten.

Und dennoch, wir wollen nicht unser Leben damit verbringen, uns selbst zu beobachten und uns zu zwingen, effektiv nach bestimmten Regeln oder Formen zu handeln. Wir wollen uns nicht ständig selbst beobachten, um jeden Fehler zu vermeiden.

In jeder Disziplin gibt es etwas, das “Meisterschaft” genannt wird. Natürlich ist es nicht einfach, diese Stufe zu erreichen. Und wegen dieser Schwierigkeit gibt es nur sehr wenige, die das erreichen, was man als Meisterschaft bezeichnen könnte. Für mich bedeutet Meisterschaft im Grunde, dass man sich nicht mehr selbst beobachten und kontrollieren muss, um in jeder Situation effektiv und nützlich zu sein.

Die meisten haben immer noch das Gefühl, dass sie sehr genau darauf achten müssen, was gesagt oder getan wird, um effektiv und korrekt zu sein. Solange wir uns auf dieser Stufe des Trainings befinden, ist das in Ordnung. Wir sind alle am Üben und niemand ist perfekt. Aber im Leben eines jeden gibt es, sagen wir mal, “Momente der Meisterschaft”. Wenn ihr plötzlich merkt, dass ihr gerade akkurat und sofort auf eine Situation reagiert habt, ohne jegliche Reaktivität und gleichzeitig ohne den Versuch einer inneren Kontrolle oder Führung, dann ist das der Geschmack von Meisterschaft. Mit anderen Worten, das ist das, was wir “Sosho” nennen, das Loslassen des ganzen Trainings, das Loslassen der Form oder der Techniken und sich einfach frei im Moment zu bewegen. Das ist natürlich eine Art Ideal. Und das ist es, woran wir alle arbeiten und was wir zu verstehen suchen.

Wie kommt das zustande? Ich kann es dir beschreiben, aber woher kommt es? Ich glaube nicht, dass dir das jemand genau sagen kann. Manchmal sagen wir, es geschieht als ein Form der Gnade (engl.: grace). Im spirituellen Training wird oft gesagt, dass es eine Art Unfall ist, und dass der Grund, warum wir so viel meditieren, ist, dass wir uns selbst anfälliger für solche Unfälle machen, dass es wahrscheinlicher ist, dass diese Sache passiert, wo wir plötzlich erkennen, dass wir über die Selbstbeherrschung hinausgegangen sind.

Also, ja, es ist eine wunderbare Sache, dass wir die Möglichkeit haben, dies zu praktizieren. Und, weisst du, wir können es sowieso nie im Vorhinein ausknobeln. Es entwickelt sich und erschließt sich uns, wenn wir aufrichtig üben. Sobald wir denken, dass wir es haben, sobald wir denken, dass wir es wissen, und wir aufhören, in jedem Moment zu üben, dann ist es um uns geschehen. Wir sind erledigt. Also, lasst uns alle weiter üben.

Student: Du sagst immer, dass die Art, wie wir Aikido machen, die Art ist, wie wir alles in unserem Leben machen. Ich erinnere mich, dass du mir gesagt hast, als ich dich im Auto gefahren habe, dass die Leute genauso fahren, wie sie Aikido machen. Und das ist so wahr. Du hast bereits über Meisterschaft in einer Kunst gesprochen. Die Frage ist, ob unsere Meisterschaft in einer Technik, wie z.B. Golf, uns automatisch zu einer besseren Person in einer anderen Disziplin macht? Und kann das Gleiche für Ki-Aikido gesagt werden? Ist es automatisch wahr, dass, wenn unsere Technik makellos ist, unser Charakter auch makellos ist? Oder ist auch eine Menge Vortäuschung möglich? Und, oder gibt es vielleicht eine andere Einstellung hinter unserem Training, und so wird unser Training tatsächlich auf jeden Aspekt in unserem Leben übertragen?

Nun, wir alle haben von Tiger Woods gehört. Er hat definitiv bestimmte Momente der Meisterschaft auf dem Golfplatz erreicht, zumindest da. Er hat darüber gesprochen, kurz nachdem er vor ein paar Jahren das Augusta National gewonnen hat. Er sagte, er sei in einen Geisteszustand geraten, der wie “in der Zone” war, wo er sagte, da könne er nichts falsch machen, könne den Ball nicht schlecht schlagen. Und dennoch bedeutet das natürlich nicht, dass er den Charakter eines Meisters hat, was sein Familienleben angeht, das nicht so gut war. Also, nein, das eine garantiert oder hebt das andere nicht auf, so oder so. Wir beurteilen ihn auch nicht als schlechten Golfspieler, weil er seine persönlichen Lebensentscheidungen nicht so gut gehandhabt hat, wie er es hätte tun können. Nein, er ist immer noch ein Meister auf dem Golfplatz.

Du kannst an andere Sportpersönlichkeiten denken, die du kennst, an andere Geschäftsleute oder an solche, die in irgendeiner Kunstform sehr begabt sind, aber in ihrem täglichen Leben extrem unglücklich waren. Weisst du, es gibt so viele, dass ich keine Namen nennen möchte, aber es sei gesagt, dass die Beherrschung einer Form sich nicht notwendigerweise in eine andere Form in unserem täglichen Leben überträgt. Meiner Ansicht nach ist Tohei Sensei’s Lehre also nicht darauf ausgerichtet, ein Dojo-Experte zu werden. Was wäre der Sinn davon? Ja. Bitte gib dein Bestes auf der Matte, und ja, bitte meistere es, wenn es dir möglich ist. Das ist sehr cool. Aber stelle sicher, dass das, was du lernst, deine Beziehung zu deiner Frau oder deinem Mann, deinen Kindern, deinen Enkelkindern genauso transformiert wie die zu deinen Aikido-Partnern. Lasst uns sehr sicher sein, dass unser Leben als Ergebnis dieser Praxis weniger wertend wird.

Schüler: Wir haben die wirklich grundlegenden Anwendungen dieses Themas besprochen. Und das ist einfach das Training auf der Matte mit deinem Partner. Und wir haben besprochen, dass man im Training einen Partner hat und man wird aufgefordert, eine Technik auszuführen. Und man geht diese Technik durch. Und es scheint, dass diese Struktur des Trainings tatsächlich auf einem Urteilen aufgebaut ist, eine Frage des Urteilens, man wird gelehrt, diese Technik zu machen und sie gut zu machen. Also, im Training, wie kann man das machen? Ist es noch möglich, wenn man in solch einer Trainingshaltung ist, das ohne Urteil zu tun?

Natürlich, das ist der ganze Sinn des Trainings. Am Anfang, wenn man zum Beispiel Autofahren lernt, hat man eine sehr starke Selbstbeurteilung. Aber wenn man lernt, das Autofahren zu beherrschen, lässt man diese intensive Selbstbeobachtung hinter sich, weil sie nicht mehr nötig ist. Urteilen ist etwas, das wir benutzen, wenn wir unvollkommen sind, etwas, das wir benutzen, wenn wir Zweifel an unseren Fähigkeiten haben. Je sicherer und erfahrener wir werden, desto freier werden wir von der Selbstbeobachtung.

Ich möchte hier einen Punkt ansprechen: Wenn ich das Wort “Bemerken” (engl.: noticing) verwende, beziehe ich mich nicht auf Selbstbeobachtung. Bemerken ist auch keine Selbstbeurteilung. Bemerken ist einfach offenes Gewahrsein. Um also Shomenuchi kokyunage mit offenem Gewahrsein ausführen zu können, ohne sich selbst oder die Wirkung auf den Partner zu beobachten, bedarf es einer wahren Verbindung und Vereinigung, sich fließend wie in einem Zustand der Gnade (engl.: grace) bewegend.

Komm schon, das ist es, worum es in all diesen Jahren der Dojo-Praxis geht. Und wie du weisst, wirst du, je reifer du in deiner Praxis wirst, immer öfter Momente dieser Art haben. Gewiss, es passiert nicht die ganze Zeit. Aber erlebst immer öfter solche Momente. Vor einigen Jahren unterrichtete ich ein Seminar in den Niederlanden, und ich machte eine Zeit lang eine Phase durch, in der, egal was geschah, alles einfach perfekt funktionierte. Und ich war mir nicht bewusst, dass ich mich selbst anleiten würde etwas zu tun oder etwas zu kontrollieren. Es war einfach automatisch. Und dann machten wir eine Pause. Und ich dachte darüber nach. Und ich fing an zu lachen, denn sobald ich anfing zu reflektieren, fing ich an, es zu beurteilen, es zu qualifizieren. Und dann wusste ich: “Oh, okay, das vertreibt es also wieder!” Das ist, wie wenn ich mir selbst im Weg stehe. Das Selbst ist vollkommen fähig, der Geist und der Körper in Einheit ist vollkommen fähig, ohne irgendein System der Führung zu funktionieren. Und wir alle haben solche Momente, früher oder später, wenn wir reifer werden. Der Punkt hier ist, dass das, worauf wir in der Geist-Körper-Vereinigung hinarbeiten, nicht ist, einer Form perfekt folgen zu können!

Wisst ihr, es gibt da eine Sache, die uns allen bewusst ist, die wir aber nicht immer wahrhaben wollen. Es ist wie eine Art “Elefant im Zimmer”. Wenn wir eine Sitzung wie diese hier haben, in der wir alle zusammenkommen und ein Thema ansprechen und jeder darüber diskutiert und wir dann eine “Frage und Antwort“ Runde dazu haben, ist das wie eine riesige Einladung für Spekulationen. Wir versuchen oft nur herauszufinden, was vor sich geht. Oder? Also muss auch dies wie eine Trainingsperiode auf der Matte betrachtet werden, in der wir nicht spekulieren, nicht versuchen zu kontrollieren, nicht versuchen zu berechnen und nicht versuchen, unser eigenes Verständnis zu verwalten. Suzuki Sensei pflegte zu sagen, dass wir wie “ein großes Ohr” sein müssen. Das gilt nicht nur, wenn ich spreche. Das ist auch so, wenn ihr sprecht. Mit anderen Worten, wenn ihr sprecht, hört ihr euch selbst zu. “Ein großes Ohr” bedeutet, dass es in eurem Kopf kein Urteilsorgan gibt, da ist nur Leere.

Wenn ihr euch selbst beim Sprechen zuhört, oder wenn ihr jemand anderem beim Sprechen zuhört, sogar wenn ihr in eurer Diskussionsgruppe seid, wollt ihr immer in einem Zustand des offenen Erkundens (engl.: inquiry) sein. Deshalb möchte ich nicht zu einer Stunde wie dieser hier kommen und alles wissen, was ich zu einem Thema sagen werde. Natürlich kommt es mir in den Sinn, weil ich es die Woche über auf meinem Computer habe. Ich gehe zurück und lese es und schaue es mir wieder und wieder an. Und dann, wenn ich am Morgen meditiere, taucht es auf. Und das gibt mir die Möglichkeit, nicht zu versuchen, herauszufinden, was es bedeutet, sondern einfach nur da zu sitzen mit ihm. Das heißt also, ich bin einfach offen dafür, ich ruhe einfach in dieser Idee, ich ruhe in Tohei Sensei’s Ausspruch.

Vielleicht haben andere Leute Schwierigkeiten, die Dinge zu verstehen, die ich sage, oder vielleicht verstehen sie es sofort. Ich weiß es nicht. Ich finde es oft niemals heraus. Aber der einzige Weg, wie ich das tun kann, und ich schlage vor, der einzige Weg, wie ihr das tun könnt, ist, immer im Zustand des Erkundens zu sein, selbst wenn ihr sprecht. Ergibt das Sinn? Wie man das macht? Ich lege hier nur ein Wort für die Leere ein, dafür, Raum für Entdeckungen zu lassen, so dass alle Möglichkeiten stattfinden können. Und so passiert es, dass bei dieser Art von Unterricht bisher unbekannte Dinge auftauchen. Dinge, für die wir nie Platz gelassen hätten, wenn die Stunde durchgeplant gewesen wäre.

Das ist also die Art von Gefühl, die ihr haben wollt, wenn ihr hier seid. Tut so, als wäre es das erste Mal und ihr entdeckt dabei etwas, das ihr vorher nicht wusstet. Das ist so, wie wenn wir aus einem Traum aufwachen und wir so verblüfft sind, wie wichtig er ist, aber wir können uns nicht wirklich daran erinnern, worum es ging. Es spielt keine Rolle, worum es ging! Vergesst die Form, die Geschichte. Es ist großartig, weil es direkt auf euch eingewirkt hat.

Schüler: Wir haben vier Fragen.

1) Die Frage von Kayomi ist, wie kann ich ein Urteil, das ich fälle, loslassen?

2) Und Joelle fragt, wenn ich spüre, dass es eine Situation gibt, in der ein reaktives Muster auftaucht, wie kann ich mich nicht dafür verurteilen?

3) Sally machte eine Aussage, dass sie in manchen negativen Situationen Gnade (engl.: grace) erfährt. Ihr wird einfach auf irgendeine Weise geholfen, wie ein Unfall. Und sie möchte gerne wissen, wie kann das öfter passieren?

4) Und meine Frage war, wenn ich in einer engen Beziehung zu einer Person mit einer psychischen Erkrankung bin, wie z.B. einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie kann ich das üben, denn in dieser Situation, und auch wenn die Person einem sehr nahe steht, sind die mentalen Muster sehr stark. 

Darf ich die letzte Frage zuerst beantworten? Ja. Also, niemand ist perfekt. Das ist die Antwort auf deine Frage. Wir alle haben mentale Muster. Weisst du, das klinische Handbuch, das die Psychiater jedes Jahr erweitern, wird immer größer, weil wir mehr Namen finden, mehr mentale Muster isolieren. Ich liebe es, dass du es ein “mentales Muster” nennst. Denn es ist genau das. Es ist einfach ein Muster des Geistes. Und wir alle haben diese Muster, und es sind sich wiederholende Muster, und das macht sie sehr stark und schwierig, damit umzugehen. Und genau das hier beantwortet auch einige eurer anderen Fragen.

Wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, müssen wir daran denken, einen Zustand der Demut und der Vergebung aufrechtzuerhalten. Andernfalls werden wir einfach über ihre mentalen Muster herfallen. Wir werden sie als fehlerhaft, als “weniger als” oder als beschädigte Ware beurteilen, die irgendwie repariert werden müssen. Und wenn wir jemanden sehen, von dem wir denken, dass er repariert werden muss, neigen wir dazu, ihn reparieren zu wollen, nicht wahr? Natürlich, aber wie wir schon den ganzen Abend gesagt haben, ermutigt uns unsere Praxis, über das Urteilen hinauszugehen.

Wenn uns das gelingt, dann befinden wir uns in einer Art Zustand der Gnade. Wir haben Geist-Körper-Vereinigung. Die Situation, in der wir uns befinden, wird gemeistert. Vielleicht ist das trotz uns, nicht unbedingt wegen uns. Denn wir können niemals ein Ergebnis von uns selbst oder von jemand anderem verlangen. Wir alle leben mit Menschen zusammen, und im Laufe eines Lebens, das wir mit einem anderen Menschen verbringen, ändern sich manche Dinge, und manche nicht. Also wenn du dich daran störst, wird dir das Sodbrennen bereiten. Wenn du das Gefühl hast, etwas tun zu müssen, um es zu reparieren, dann machst du dich selbst verrückt. Oder?

Das meinte ich damit, dass wir uns in einem Zustand der Demut und Vergebung befinden müssen. Wir haben wirklich keine andere Wahl, wenn wir uns nicht selbst quälen wollen. Ich weiß, dass ich auch Dinge habe, die andere Menschen wahnsinnig machen. So ist das also mit Beziehungen. So etwas wie eine perfekte, musterfreie Beziehung gibt es nicht. Jeder sitzt im selben Boot.

Wir alle müssen von Beginn unserer Praxis an anfangen zu verstehen, wie wir in einer Beziehung sein können. Meine Frau Lynn sagt immer zu den Anfängern: “Sei still, setz dich hin und sprich nicht, hör einfach zu, was um dich herum passiert. So lernt man im Dojo.”

Und ich weiß, dass ihr das alle versteht. Das ist ein Prinzip, das wir alle im Dojo befolgen. Aber es ist auch ein Prinzip, das wir oft ignorieren, wenn wir nicht im Dojo sind, in einer persönlichen Beziehung oder in einer anderen Situation. Wenn man zum Beispiel ein Betreuer für jemanden ist, der wirklich Probleme hat oder wirklich schwierig ist, kann das eine Herausforderung sein. Das heißt natürlich nicht, dass man die vorhandenen Muster nicht erkennt, aber man reagiert einfach nicht auf sie. Wenn du die Muster erkennst, dann bist du viel eher in der Lage, mit Unterstützung für die andere Person zu agieren.

Der Kern unserer Praxis ist es, immer zu sehen, die Muster in uns selbst zu bemerken, und mich nicht dafür zu verurteilen, dass ich diese Muster habe. Wir üben an uns selbst. Wir sind genau wie die andere Person. Wie wir uns selbst behandeln, so werden wir auch andere Menschen behandeln. Wenn du dich also selbst verurteilst, bedeutet das, dass du andere Menschen auf die gleiche Weise und genauso hart beurteilst. Das haben wir unser ganzes Leben lang gelernt. Wir lernen nun also von neuem, einfach zuzulassen, dass jemand so ist, wie und was er ist, einschließlich du selbst.

Das Gewahrsein davon wird anfangen zu entstehen. Da ist viel Bemerken, und dieses Bemerken führt mit der Zeit zu einem Wissen. Wir praktizieren Meditation, wir praktizieren Ki-Atmung, wir sitzen und sitzen und sitzen. Wisst ihr, Leute, ich sitze seit über 50 Jahren, und ich muss immer noch jeden Tag sitzen. Natürlich befreit uns dieses Wissen, von dem ich gerade gesprochen habe, von unserer Reaktivität. Es befreit uns davon, über andere zu urteilen. Aber es bedeutet nicht, dass wir perfekt sind. Es bedeutet nur, dass wir Menschen weniger schaden als früher. Es bedeutet nur, dass wir freundlicher sind, als wir es früher waren. Und genau das, Leute, ist riesig. Ein kleiner Moment der Freundlichkeit. Ein kleiner Moment des Nicht-Verletzens verändert die Welt.

Lasst uns weiter üben. Ich liebe euch alle. 

Domo arigato gozaimasu.

(Online Training mit Christopher Curtis Sensei vom 9. April 2021, Übersetzung: Olaf T. Schubert)